Neulich auf der Rolltreppe

 

Angestrengt gehe ich mit schnellem Schritt Richtung Rolltreppe. Ich bin spät dran. Zuvor musste ich mich aus einer vollen U-Bahn durch eine Menschenmenge hindurch im Schneckentempo schlängeln, was meinen inneren Druck nur noch erhöht hat. „Warum ist es nur immer so voll am Sendlinger Tor? Die meisten sind wohl Touristen!“

 

Nun bin ich fast durch und muss die letzte Treppe nehmen, um an die Oberfläche zu gelangen. Nehme ich die Rolltreppe oder die einfach die normale Treppe? Ich entscheide mich fürs Rollen, um dann hier auch hoch zu laufen und noch ein paar Sekunden zu gewinnen – das entspannt zwar nicht meine Terminplanung, aber mein innerer Druck wird etwas gesenkt.

 

Meine Gedanken schweifen ab: „Eigentlich könnte ich Bewegung gebrauchen. Sitze zu viel, vor allem in letzter Zeit. Das hat einen Grund: Ich sitze am Bett meiner schwerkranken Mutter. Sehe sie vor mir -  wie sie dort liegt, auf der Intensivstation, völlig hilflos. Ich könnte heulen. „Jetzt nicht dran denken! Gleich hast du einen Termin.“

 

Ich eile weiter. Vor der Rolltreppe stehen drei Männer und können sich anscheinend nicht entscheiden hochzufahren. Touristen wahrscheinlich, die sich nicht auskennen“, denke ich. Ich bin genervt, hab's eilig. Ich bin noch immer traurig und völlig in Gedanken versunken. Ich drängle mich genervt an den 'Touristen' vorbei und murmele ärgerlicher als ich es sonst tun würde: “Leute....geht's halt!", laufe rasch die Rolltreppe hoch.

 

Plötzlich höre ich von hinten eine Stimme. Ein Passant geht mit großen Schritten die Treppe hoch und spricht mich verärgert an: „Manche Menschen sind nicht nur unaufmerksam, sondern auch noch arrogant.“ Ich schaue ihn eine Sekunde lang verständnislos an und er deutet mit dem Kopf nach oben.

Dort stehen zwei Frauen mit Kinderwagen, die darauf warten, die Rolltreppe nach unten nehmen zu können. Damit die Rolltreppe ihre Fahrtrichtung wechseln kann, muss sie kurz still stehen. Das tut sie nur, wenn niemand auf ihr steht oder geht. Der Passant wirft mir noch ein geringschätzendes „pff“ nach und überholt mich.

 

Beschämt erhöhe ich mein Tempo, entschuldige mich bei den zwei Frauen und sage: „Ich habe Sie nicht gesehen“. Sie lächeln verständnisvoll. Trotzdem fühle ich mich getroffen. Würde dem Passanten gern hinterher rufen: „Hey, es gibt einen echt ziemlich traurigen Grund, warum ich gerade so unaufmerksam war. Dein Urteil über mich passt nicht!“ Er ist schon weg und warum auch rechtfertigen?

 

Und: Wir haben uns beide getäuscht: Ich hatte keine orientierungslosen Touristen vor mir, sondern zuvorkommende Männer. Und er – nun er konnte ja nicht wissen, warum ich so unaufmerksam und genervt war. Womöglich wäre sein Urteil dann deutlich milder ausgefallen.

 

Wie oft passiert uns das? Dass wir andere bewerten, ohne die Hintergründe zu kennen? Dass unser Fokus auf bestimmten Annahmen oder Einstellungen liegt und somit unsere Wahrnehmung einschränkt? So wie meine an der Rolltreppe. Und wie viele Möglichkeiten verpassen wir  so in unserem Leben?

 

Menschen bewerten häufig, weil Bewertung in der Entwicklungsgeschichte des Menschen notwendig war, um zu überleben. Und sie ist nach wie vor wichtig, beispielsweise damit:

  • wir uns entscheiden können,
  • wir nicht von all den vielen Reizen, die auf uns einströmen, überflutet  werden
  • wir eigene Grenzen setzen und beispielsweise "nein" sagen können

Bewertung stärkt uns, wenn sie unsere Arbeit, unsere Erfolge, uns als Menschen wertschätzt.

Noch schöner ist es, wenn wir uns wohl fühlen, einfach, weil wir da sind. Den Moment wahrnehmen, ohne "schön" oder schlecht" zu denken, sondern einfach sehen, spüren, hören, riechen, schmecken, was ist.

 

Aber zurück zur Bewertung: Wenn wir also das nächste Mal wieder unseren Kollegen, unsere Chefin, den Nachbarn oder unseren Partner beurteilen, könnten wir zuvor überlegen: Ist das, was ich wahrnehme auch seine/ihre Perspektive? Und gibt es einen guten Grund, dass sie oder er so handelt? Ein indianisches Sprichwort sagt dazu:

 

Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gelaufen bist.

 

Wäre der Passant nur ein paar Minuten in meinen Mokassins gelaufen, er hätte mich sicher gut verstanden. Und: Auch wenn es mir nicht leicht fällt, wäre ich in seinen gelaufen, dann hätte ich womöglich auch seinen Unmut leichter einordnen können.

 

Wichtig dabei ist zu unterscheiden: Nur weil ich den anderen verstehe, heißt das nicht, dass ich mit seinen Worten oder seinem Handeln einverstanden bin! Verständnis kann jedoch Konflikte auflösen oder sie kommen erst gar nicht zustande.

 

In diesem Sinne – laufen Sie öfters mal in anderen Mokassins. Es könnte spannend werden!